Einführung: Der demografische Wandel ist Fakt – und noch immer will es kaum einer wahrhaben

Am 27. Juni 2019 stellte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden die „Annahmen und Ergebnisse“ seiner „14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“ vor. Eingeflossen sind die Daten, die Ende 2018 notiert werden konnten. Die Erkenntnisse können kostenlos auf der Seite www.destatis.de heruntergeladen werden. Unter dem Titel „Bevölkerung im Wandel“ stehen sie allen zur Verfügung. Es mangelt – schon lange – nicht an Erkenntnissen.

Nachfolgend lesen Sie die wichtigsten demografischen Befunde:

  • Noch nie lebten so viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wie Ende 2018: 83 Millionen Menschen.
  • Noch nie lebten so viele Menschen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit in Deutschland: 10,9 Millionen Menschen.
  • Noch nie war es den Deutschen vergönnt, so lange zu leben (statistisch besehen): 78,4 Jahren bei den Männern und 83,2 Jahre bei den Frauen (Sterbetafel 2015/2017).
  • Noch nie bezogen die Menschen so lange Rente wir zurzeit: 21 Jahre.
  • Noch nie war der Anteil der Menschen über 70 Jahre so hoch wie 2018: 13 Millionen Menschen (1990 waren es noch acht Millionen).
  • Noch nie gab es so viele erwerbsfähige Menschen Im Alter zwischen 20 und 66 Jahren wie 2018: 51,8 Millionen Menschen.
  • Allerdings: Noch nie war die Hälfte der Menschen im erwerbsfähigen Alter im Durchschnitt so alt: 45 Jahre und älter.

Doch diese demografischen Rekorde sind differenziert zu bewerten, denn noch immer (genauer: seit 1972) übersteigt die Zahl der gestorbenen Menschen in Deutschland die der neu Geborenen. 2018 betrug das Saldo 167.000. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass dieses Saldo bis 2054 auf 530.000 ansteigen wird. Auch in Zukunft werden in Deutschland mehr Inkontinenzhilfen als Babywindeln nachgefragt werden. Auch in Zukunft werden wir mehr auf Geburtstagsfeiern ab 80 Jahren aufwärts und auf goldenen oder diamentenen Hochzeitsfeiern sein als auf Taufen oder grünen Hochzeitsfeiern. Der Rollator wird zum selbstverständlichen Bestandteil eines Stadtbildes. In vielen Regionen Deutschlands ist das bereits heute schon so.

Deshalb überrascht es auch nicht, dass die meisten Menschen, wenn man sie spontan mit dem Begriff „Demografischer Wandel“ konfrontiert, damit in erster Linie die Facette „Alter“ verbinden. „Wir werden alle älter.“, heißt es dann, oder auch: „Die älteren Menschen werden immer mehr.“ Was das gesamtgesellschaftlich bedeutet, haben die meisten Menschen nicht vor Augen. Es wird auch zu wenig diskutiert, sowohl in der Politik als auch in den Medien. Beispiel Wohnen. Überall steht der Neubau von Wohnungen auf der Tagesordnung. Mindestens genauso dringend ist es, alternsgerechten, barrierearmen Umbau bestehenden Wohnungen zu diskutieren. Bisher sind nur rund drei Prozent der Wohnungen in Deutschland auf die älter werdende Bevölkerung vorbereitet.

Die Statistiker des Statistischen Bundesamtes gehen davon aus, dass die Bevölkerung in Deutschland bis 2024 noch auf 83,7 Millionen Menschen zunehmen wird, bevor sie dann stetig bis 2060 auf 78,2 Millionen bzw. 74,4 Millionen Menschen abnehmen wird. In der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung sind hierzu 21 verschiedene Varianten vorgelegt worden.

Um die Bevölkerung stabil zu halten, bräuchte es eine Nettozuwanderung, eine moderate Entwicklung der Geburtenhäufigkeit sowie ein weiteres Ansteigen der Lebenserwartung. Das Problem ist: Woher sollen die Menschen kommen? Denn die Länder, aus denen zurzeit die meisten Menschen innerhalb der Europäischen Union zuwandern, verzeichnen noch niedrigere Geburtenraten und hohe Abwanderungszahlen. Kroatien will die Abwanderung junger, gut gebildeter Menschen, insbesondere aus osteuropäischen Mitgliedsländern zu einem Schwerpunktthema im Rahmen seiner Präsidentschaft der Europäischen Union im 1. Halbjahr 2020 machen. Zurzeit wandern die meisten davon nach Deutschland aus.

Das Problem ist ferner: das Potenzial der Frauen, die im gebärfähigen Alter sind, nimmt deutlich ab. Um die Geburtenzahl zu halten, müssten also pro Frau wieder mehr als zwei Kinder geboren werden. Das Problem ist auch, dass der weitere Anstieg der Lebenserwartung die Versorgungsnotwendigkeiten im hohen Alter verstärkt, zum Beispiel in Gesundheit und Pflege, vor allem in ländlichen Strukturen.

Doch – und das erfahren wir jeden Tag in den Medien: noch nie waren in Deutschland so viele Menschen erwerbstätig, noch nie waren seit 1990 so wenige Menschen arbeitslos, noch nie zuvor gab es so viele offene Stellen – und das in fast allen Berufen und Branchen. Fachkräfte sind die neue demografische Währung am Arbeitsmarkt, weniger Stellen. Wie organisieren wir künftig die Arbeit? Wie vernetzen wir diese Herausforderung mit den Möglichkeiten der Digitalisierung sowie der interkommunalen, interregionalen, internationalen Zusammenarbeit?

Die Statistiker haben aus- und vorgerechnet, dass ohne eine weitere Nettozuwanderung sich die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter um neun Millionen bis 2035 verringern würde. Wollte man diese Verluste abfangen, müssten zwischen 2019 und 2035 jährlich 530.000 mehr Menschen netto zu- als abwandern. Doch wie steht es um deren Integration, um deren Spracherwerb? Deutschland ist ein Einwanderungsland ohne Einwanderungskultur. Die höchste Ablehnung der Zuwanderung ist dort spürbar, wo sie am meisten gebraucht werden würde. Wer schiebt künftig dort den Rollstuhl?

Fazit: Der demografische Wandel bleibt auf der Tagesordnung. Dessen Gestaltung wird drängender. Auch wenn sich die demografischen Rahmenbedingungen durch die massive Zuwanderung der letzten Jahre nachhaltig verändert haben (von 2011-2018 wanderten netto 4.082.992 Menschen nach Deutschland, darunter rund 1,6 Millionen Geflüchtete), so bleiben doch folgende Fakten unumstößlich:

  • Die Bevölkerungszahl wird langfristig ab 2024 sinken.
  • Die Struktur der Bevölkerung wird sich insgesamt zugunsten der älteren Menshen weiter verschieben.
  • Es versterben stetig mehr Menschen als geboren werden.
  • Die Zahl der erwerbsfähigen Menschen (20 – 66 Jahre) wird deutlich sinken und im Mittel älter werden. (Die Rente mit 65 heißt: zwei Millionen Erwerbsfähige weniger!)
  • Die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren wird sich bei rund 14 Millionen einpendeln.
  • Der Anteil der Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte wird deutlich ansteigen.

Seit über zehn Jahren bin ich in Deutschland unter anderem mit dem Thema „Demografischer Wandel“ unterwegs: halte Vorträge, schreibe Bücher und Artikel, gebe Interviews, konzipiere Workshops und Seminare als Fortbildung, moderiere Symposien, Fachveranstaltungen und Demografie-Foren, berate Menschen in Kommunen, Verbänden und Unternehmen, führe unzählige Gespräche mit Entscheidern in Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Ich sensibilisiere, erläutere die Fakten, veranschauliche die Zusammenhänge, rüttle wach. Doch ehrlich: ich habe das Gefühl, es tut sich nur langsam etwas. Aus meiner Sicht zu langsam. Wahrscheinlich ist es das, was Max Weber meinte, als er Politik mit dem „Bohren dicker Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft“ beschrieb. Doch ich gebe nicht auf. Dieses digitale Nachschlagewerk zum demografischen Wandel ist ein Beleg dafür.

Meine Erfahrung ist, dass es sehr schwer ist, Bilder im Kopf zu verändern, die genau das bereits zitierte „Weiter so!“ tief verinnerlicht haben. „Kinder haben die Leute immer“, hat Konrad Adenauer, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland von 1949-1963, zum Beispiel gesagt, als er 1957 gefragt wurde, ob in der Rentenversicherung eine Kinderkomponente eingebaut werden solle. Doch das stimmt nicht. 2018 bekamen 100 Elternteile noch 160 Kinder in Deutschland. Um eine Gesellschaft bevölkerungspolitisch stabil zu halten, müssten es 208 Kinder sein, zu Adenauers Zeiten waren es 220. Davon sind wir weit entfernt, übrigens schon seit über 40 Jahren. Doch wir wollen die damit einhergehenden Veränderungen alle nicht wahrhaben, nicht durchdenken, uns nicht verändern.

Hätte Konrad Adenauer den „Pillenknick“ 1967 miterlebt, hätte er als erster gesagt, was ihn denn sein „Geschwätz von gestern“ störe. Seine politischen Nachfahren hingegen haben an diesem Geschwätz festgehalten! Warum? Sie haben an den Bildern der Vergangenheit gehangen. Sie haben Zukunft als Verlängerung der Vergangenheit gestaltet. Dafür sind sie dann auch gewählt worden. Doch die Zukunft ist nicht mehr die Verlängerung der Vergangenheit.

Warum? Ganz einfach: 1964 kamen im heutigen Deutschland 1.357.304 Kinder zur Welt. Nach geltendem Rentenrecht erreichen diese Menschen 2031 (mit 67 Jahren) ihren gesetzlichen Ruhestand. In diesem Jahr werden die 2003 in Deutschland geborenen Menschen 18 Jahre alt und stehen dem Arbeitsmarkt theoretisch zur Verfügung. Das waren exakt 682.069 Menschen. Mit anderen Worten: die Hälfte der Arbeitsplätze, die 2031 durch den altersbedingten Ausstieg der 1964 Geborenen aus dem Berufsleben frei werden, kann nicht wieder besetzt werden.

Die anderen sind nicht mehr da. Und nachgebären geht nicht. Der Umbau unserer Gesellschaft steht an, doch bei fast niemandem auf der Tagesordnung. Stellen Sie sich ein Ruderboot vor, in dem nach und nach die aktiven Ruderer altersbedingt aufhören, nur noch hälftig nachbesetzt werden können und gleichzeitig die altersbedingt Ausgeschiedenen als Fahrgäste noch mitreisen wollen.

Die Herausforderung ist, eine Vision für eine Gesellschaft zu gestalten, in der

  • jeder zweite Bürger älter oder jünger als 50 Jahre alt ist,
  • in der doppelt so viele Menschen über 65 Jahre leben wie unter 18 Jahre,
  • in der die jungen Generationen mehrheitlich vielfältige kulturelle, religiöse und ethnische Wurzeln haben, während die Generationen über 50 Jahre diese Wanderungserfahrungen mehrheitlich nicht aufweisen.

Die Herausforderung wird umso größer, weil es kein Erfahrungswissen, keine Blaupause, keinen Plan gibt, wie wir eine solche Gesellschaft gestalten können. Wir können nicht länger verwalten, wir müssen gestalten. Lösungen, die gestern noch undenkbar schienen, können dabei heute innovativ gedacht werden.

Doch das setzt voraus, dass jeder von uns seine Bereitschaft zur eigenen Veränderung nicht länger ausschließt. Es setzt voraus, dass wir uns aufmachen, den demografischen Wandel als die zentrale Folie zu begreifen, auf der unser künftiges Leben stattfinden wird. Es setzt voraus, dass die politischen und gesellschaftlichen Kräfte dies auch so wollen. Das Zeitfenster in einer Demokratie ist deshalb knapp, weil bereits bei der Bundestagswahl 2017 jeder zweite Wählende (nicht Wahlberechtigte!) älter als 55 Jahre war. Welche Interessen gewinnen dann Wahlen? Ist Kindergeschrei Zukunftsmusik oder schlichtweg störender Lärm?

Die Leitfrage, die es zu beantworten gilt, lautet: Wie stellen wir uns vor zu leben, zu wohnen und zu arbeiten auf dem Hintergrund eines deutlich längeren Lebens, einer nachhaltig veränderten Bevölkerungsstruktur und im Miteinander der Generationen und Kulturen?

Platt ausgedrückt: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wer Ihren Rollstuhl schiebt?

Dabei ist die gegenwärtige Großeltern-Enkel-Beziehung in der Regel eine der glücklichsten und menschlich selig machenden Beziehungen. Doch wer wird heute noch Opa oder Oma? Ein Viertel unserer Gesellschaft ist schon gar nicht mehr Papa oder Mama. Zukunft ist dann in der Regel ihre Zukunft, nicht die der nächsten Generationen. Entsprechend wird gehandelt und gewählt.

Der demografische Wandel, der von den Eckpfeilern „Weniger“ (weniger Menschen und weniger Kinder), „Älter“ (immer mehr Ältere und ein stetiges älter werden) sowie „Bunter“ (immer mehr Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, ethnischen und religiösen Herkünften, aber auch immer buntere, da vielfältigere soziale Lebensstile), wird uns die nächsten 40 bis 50 Jahre begleiten. Denn dann wird die Generation der „Babyboomer“ (Geburtenjahrgänge 1955 – 1969) verstorben sein.

Der demografische Wandel beschreibt eine neue soziale Realität, die es zu gestalten gilt. Eine Katastrophe ist dieser Wandel dann, wenn ich mich nicht auf ihn einstelle, ihn leugne, ihn mit Instrumenten von gestern zu gestalten suche. Es gilt sich hier zu verändern. Das fällt umso leichter, wenn ich ein Bild vor mir habe, wie diese Zukunft aussehen könnte, ein Bild, dass es nun gemeinsam anzustreben gilt.

Dr. Winfried Kösters
Bergheim, September 2019